IST DAS HEUTIGE RUSSLAND EIN FEIND DER WESTLICHEN DEMOKRATIE?

Vortrag von Wolfgang Akunow, Moskau

IST DAS HEUTIGE RUSSLAND EIN FEIND DER WESTLICHEN DEMOKRATIE?

Referent Wolfgang Akunov

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Um diese Frage richtig beantworten zu koennen, muessen wir folgende keinem Zweifel unterliegende Tatsache beruecksichtigen. Nach 1993 dachten und handelten die herrschenden russischen politischen Eliten eindeutig prowestlich, dito transatlantisch, also eindeutig proamerikanisch. Spaetestens 2013 hat jedoch im Denken dieser Eliten, die bislang bereitwillig im Fahrwasser der US-amerikanischen Politik zu folgen bereit waren, die es die politischen Eliten der EU-Staaten schon vorher taten, ein Umdenken begonnen. Dies war wohl eine direkte Folge deren immer staerkerer Zweifel an der Notwendigkeit auch weiterhin eine zweitrangige weltpolitische Rolle zu spielen, Gipfeltreffen der Grossen Acht als Statisten beizuwohnen, eine gute Miene bei schlechten Spiel zu machen, sich staendig aus einer Abwehrstellung in eine andere verdraengt zu sehen, sowie deren allmaehlich herangereiften Entschlusses, aus der Defensive in die Offensive ueberzugehen. Gleichzeitig konnten die Kreml-Analytiker, die Verlauf und Ergebnisse der Parlamentswahlen in den EU-Mitgliedstaaten aufmerksam verfolgten, nicht umhin, die Wahlerfolge der rechtskonservativen Parteien in den europaeischen Staaten, vor allen Dingen in Ungarn und Frankreich, aber nicht nur dort allein, zu beachten und daraus den Schluss zu ziehen, dass die Voelker dieser Staaten des geeinten demokratischen Europas in Wirklichkeit in ihren politischen Ansichten, Praeferenzen und Anschauungen alles andere als einheitlich sind, und dass sie den Generalkurs der in ihrem Namen auftretenden politischen Eliten ihrer Laender gar nicht hundertprozentig vertreten. Infolgedessen wurde in Moskau offensichtlich beschlossen, den bisherigen US-EU-Fahrwasserkurs zu verlassen. Russland ist in eine weltanschauliche Offensive uebergegangen. So hat der Staatspraesident der Russischen Foederation Vladimir Putin im September 2013 im Rahmen seines Statements vor den Teilnehmern des internationalen Diskussionsklubs „Waldai“ die euroatlantischen Staaten dafuer kritisiert, dass sie, nach seiner Auffassung_ bestrebt seien, in vielerlei Hinsicht auf ihre eigenen Wurzeln, auf die christlichen Werte, auf das Fundament der westlichen Zivilisation zu verzichten; dass sie die ethischen Grundwerte sowie jede traditionelle nationale, kulturelle, religioese ja sogar geschlechtliche Identitaet nach seiner Meinung negieren wuerden. Er verwies auch darauf, dass die Politiker in den euro-atlantischen Laendern kinderreiche Familien gleichgeschlechtlichen Partnerschaften gleichsetzen wuerden. Dass diese Politiker so weit gehen wuerden, ueber die Registrierung von Parteien mit paedophilen Programmen zu diskutieren. Dass Menschen in vielen euroatlantischen Laendern sich schaemen und fuerchten wuerden, sich zu ihrem Glauben offen zu bekennen. Dass man in diesen Laendern traditionelle Feste abschaffen beziehungsweise so umbenennen wuerde, dass dabei deren Sinn und Zweck sowie der Anlass, aus dem diese Feste einst eingefuehrt wurden, sowie deren spirituelle und moralische Wurzeln verschwinden wuerden. Dass Versuche gemacht wuerden,  dieses Modell auf aggressive Art und Weise allen anderen, der ganzen Welt aufzuzwingen. Nach seiner Meinung wuerde dieser Weg direkt zur Entartung und Primitivitaet, zu einer tiefen demografischen und moralischen Krise fuehren.

Somit hat das heutige Russland dem euroatlantischen Westen gleichsam zum ersten Mal  den ideologischen Fehdehandschuh geworfen. Danach wurden von RF-Staatspraesident Putin auch in seiner Neujahrsansprache im Dezember 2013 und schliesslich auch im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise 2014 aehnliche Thesen verlautbart. Nunmehr konnten keine Zweifel mehr ueber Russlands Entscheidung bestehen, sich wieder in seine traditionelle, durch die historisch gesehen relativ kurze Sowjetperiode  unterbrochene Rolle eines der konservativsten L;nder Europas zurueckzuversetzen. Denn diese Rolle scheint durchaus zur russischen Mentalitaet viel besser zu passen als die Rolle des viel mehr global als national denkenden und handelnden kommunistischen Welt- und Voelker-Befreiers und Beglueckers. Von ihrem Naturell her sind die Russen gar keine Revolutionaere, von dem Zeitabschnitt des „roten Globalismus“ zwischen 1917 und ungefaehr 1939 abgesehen. Angefangen von der in der zweiten Haelfte des XV. Jahrhunderts formulierten Idee, Moskau sei das „Dritte Rom“ und der „Heiligen Allianz“ Russlands mit Preussen und Oesterreich nach 1815 – immer war Russland ein entschiedener Verfechter der Ideen von Glauben, Recht und Ordnung, Konservatismus und Stabilitaet sowie ein ebenso entschiedener Gegner von allen Formen von Aufruhr, Rebellion; Liberalismus und Wandel.

Das Russische Zivilisations-Modell als Gegenstueck zum liberalen, universalistischen, westlichen Zivilisationsmodell ist also durchaus traditionell. Bereits zu Beginn des XIX. Jahrhunderts wurden philosophische Ideen ueber eine eigenstaendige „Russische Zivilisation“ formuliert, um zwischen Russland und den Aufklaerungsbewegungen Westeuropas eine klare Grenze zu ziehen. Der Begriff der „Russischen Zivilisation“ wurde zur Waffe der anstiwestlichen „Slawophilen“ in deren ideologischer Auseinandersetzung mit der ebenfalls russischen Partei der „Westler“, Anhaenger des westlichen Entwicklungswegs. Der Begriff der „Russischen Zivilisation“, der durch Aksakov, Kirejewski, Dostojewski, Tolstoi, Berdjajev, Solshenizyn und andere Schriftstellern und Denkern propagiert wurde, ist im Laufe von fast zwei Jahrhunderten nicht nur in Koepfe und Herzen, sondern auch ins Fleisch und Blut vieler Russen eingegangen. Es war nicht der Amerikaner Samuel Huntigton, sondern der Russe Nikolai Danilewski, der als Erster ueber den „Kampf der Kulturen“ in seinem bekannten Werk „Russland und Europa“ 1869  geschrieben hat.

Der Begriff „Russische Zivilisation“ wird immer wieder zu Zeitpunkten besonders volkstuemlich, da die russische Seelle im Zusammenhang mit sowohl innerpolitrischen als auch ausserpolitischen Krisen sich auf die Suche seiner selbst begibt. Darueber wurden zahlreiche Buecher verfasst. So wendet sich das russische geistige Leben und die russische Politik auch heute, nach einer langen Phase des intensiven Kopierens des Westens und intensiver Entlehnungen aus dem Westen (was in den westlichen euroatlantischen Staaten haeufig als die „Modernisierung Russlands“ missverstanden wurde) erneut der Suche nach den eigenen Wurzeln zu.

Was ist also fuer die „Russische Zivilisation“ oder, um den aktuellen Begriff zu gebrauchen, die „Russische Welt“ in der politischen Realitaet kennzeichnend?

Erstens, der hohe Stellenwert der autoritaeren Vertikale (sowohl der politischen Machtvertikale als auch der Produktions-Betriebsvertikale) mit gleichzeitiger Betonung des Handelns in Uebereinstimmung mit der Meinung und Stimmung der Mehrheit, des Kollektivs, des fuer Russland traditionellen „Bienenschwarmprinzips“, welches die Slawophilen seinerzeit so sehr entzueckte, als Gegengewicht zu der Betonung der rechte und der Rolle des einzelnen Individuums, die im Westen so weit verbreitet ist, dass man sie sogar als eingefleischt bezeichnen koennte. Das ewige Dilemma: Gemeinnutz oder Eigennutz, was ist primaer und vorrangig? Nach den Vorstellungen der Verfechter dieses russischen Demokratie-Modells ist dessen demokratischer Gehalt dem demokratischen Gehalt des westlichen Alternativ-Modells ueberlegen. Diese Idee koennte wie folgt formuliert werden: Mehrheitsdemokratie gegen Minderheitendemokratie. Deshalb werden auf politischer Ebene solche Vorhaben maximal unterstuetzt, die; nach dem Dafuerhalten ihrer Verfasser den Ansichten und Anschauungen der Mehrheit entsprechen. Waehrend das in den westlichen Demokratien so stark ausgepraegte Streben, Garantien der individuellen Selbstentfaltung des Einzelnen gegen eventuelle Angriffe seitens Mehrheits-Interessenvertreter zu beschuetzen, in Russland eine eher zweitrangige Rolle spielt. Minderheiten geniessen zwar Schutz im Sicherungsrahmen ihrer Existenzberechtigung, jedoch keine so beachtliche oeffentliche Unterstuetzung zur Selbstentfaltung. Generell wird der Hauptnachdruck auf Einheit und Geschlossenheit gelegt, waehrend Vielfalt, Pluralismus eher als Ausdruck von Schwaeche und vielleicht sogar als Gefahrenquelle betrachtet werden. Das Aufheben, das im Westen um die Rechte sexueller Minderheiten gemacht wird, betrachten die meisten Russen als Ausdruck purer Entartung. In Russland ist alles viel einfacher. Sexuelle Minderheiten existieren auch in Russland und duerfen alles tun, was ihnen beliebt, solange sie dadurch niemanden stoeren.
Diese pragmatische Sichtweise des Welt- und Lebenshandels und –wandels ist fuer die meisten Vertreter der an sich groesstenteils apolitischen und ideologiefremden russischen Gesellschaft typisch.

Im heutigen Russland bestehen ganz offensichtlich Beruehrungspunkte mit den Neuen Rechtender westlichen Laender. Dessen ist man sich sowohl in Russland als auch im Westen durchaus bewusst. Dabei versuchen beide Seiten diese Beruehrungspunkte in eigenem Interesse zu nutzen. Es war daher kein Zufall, dass die Vorsitzende der franzoesischen Front National Marin Le Pen seit 2013 aktive politische Gespraeche im Rahmen ihrer Russlandbesuche gefuehrt hat. Russische Gaeste waren bei interregionalen Treffen europaeischer Rechter praesent, so zum Beispiel 2013 beim Kongress der italienischen Lega Nord in Turin. Russische Nationalisten wie zum Beispiel der RF-Staatsduma (Parlaments)-Abgeordnete Sergej Baburin  erklaerten offen, europaeische Rechtspopulisten wuerden russischen politischen Zielen als Fuenfte Kolonne dienen.  Im Interview, das von Sergej Baburin  am 17. Mai 2014 dem Internet-Portal „Svobodhaja Pressa“ gewaehrt wurde, nannte er auch den Ziel und Zweck dieser Zusammenarbeit: Unterstuetzung der Anhaenger eines „Europas der Voelker“ (im Unterschied zum „Europa der Regionen“) mit gleichzeitiger Staerkung von Kraeften, die die NATO-Erweiterung auf dem Europaeischen Kontinent verhindern wollen. Letztendlich bestuende das Ziel, so Baburin, in der Nichtzulassung einer Kolonisierung der ganzen Welt im Namen eines Nationen und Kulturen zerstoerenden Prinzips. Baburin zufolge wuerden die europaeischen Rechten versuchen, „ihr Haus vor dem US-Diktat zu schuetzen“.
Spaetestens zum Zeitpunkt, da das Wort „Fuenfte Kolonne“ fiel, begannen viele Westeuropaeer, misstrauisch in Richtung Russland zu schauen. Und zwar, nicht nur liberale Transatlantiker, die schon immer Russland gegenueber kritisch gestimmt und gesonnen waren. Man begann, ueber das Streben von Putins Russland nach „Restauration“ zu reden. Um was fuer eine „Restauration“ soll es sich aber dabei handeln? Um die Restauration der kommunistischen Sowjetdiktatur, Restauration der UdSSR im Stil Lenins oder Stalins? Oder um die Restauration des zaristischen Russlands, nicht nur von den westlichen Liberalen, sondern auch von den sowjetischen Bolschewisten als „Voelkergefaengnis“ bezeichnet (inwieweit der Vorwurf stimmte, bleibt dahingestellt)?

In Wirklichkeit stehen dahinter keine Plaene der Restauration des frueheren sowjetkommunistischen Systems (ungeachtet der Nutzung mancher aus alten Sowjetzeiten uebernommener Symbole, neben russisch-nationalen zaristischen Symbolen). Als RF-Staatspraesident Wladimir Putin, gemeinsam mit rechtsintellektuellen „Eurasianisten“, dem Zerfall der UdSSR nachtrauerte und diesen sogar als „die groesste geopolitische Katastrophe des XX. Jahrhunderts“ bezeichnete, trauerte er nicht dem Strukturzerfall der zentralen Planwirtschaft sondern dem Zerfall der russischen Zivilisation nach, der Russland verletzbar gemacht hat. Heute ist Russlands Westflanke schwach und offen. So schwach und offen war sie seit dem XVI. Jahrhundert nicht mehr. Die 2014 ausgebrochene Ukraine-Krise hat ganz klar vor Augen gefuehrt, dass die Perspektive des NATO-Beitritts der Ukraine (und vielleicht irgendwann auch Weissrusslands) im Kollektivgedaechtnis vieler Russen  Erinnerungen an die schwere Vergangenheit wachruft, zum Beispiel, an polnisch-litauische Truppen (die uebrigens mindestens zur Haelfte aus direkten Vorfahren der heutigen Ukrainer oder Weissrussen bestanden) vor und in den russischen Staedten Smolensk, Kaluga und Moskau, der Einmarsch von Napoleons Grossen Armee, von weiteren westlichen Invasionen ganz zu schweigen. Die Russen haben ein gutes Gedaechtnis, viele von ihnen sind mental in einer so fernen Vergangenheit zu Hause, dass es den meisten in postmodernistischen Zivilisationsverhaeltnissen lebenden Westeuropaeern seltsam und sogar unvorstellbar erscheinen wuerde. Und dennoch haben viele Russen selbst in unserem High-Tech- und Internet-Zeitalter kriegerische Auseinandersetzungen ihrer fernen Vorfahren mit Deutschordensrittern, Schweden und dem polnisch-litauischen Staat so gut in Erinnerung, als waeren diese erst vor kurzem passiert. Dies erklaert das traditionelle Misstrauen dem Westen gegenueber, welches bei vielen fast genetisch geworden ist. Wie sehr westliche Politiker auch behaupten moegen, dass von den NATO-Streitkraeften keinerlei Gefahr fuer Russland ausgehen wuerde.

Kehren wir aber wieder zur Fragen der weltanschaulichen Auseinandersetzung zurueck. Haeufig wird westlicherseits folgende Frage gestellt: Wenn die russische Gesellschaft wirklich aus ueberzeugten Verfechtern traditioneller konservativer und religioeser Werte besteht, wodurch laesst sich dann die hohe Anzahl der Abtreibungen in Russland erklaeren? Dieser Vorwurf erscheint nicht unbegruendet. Ungeachtet des Rueckgangs der Pro-Kopf-Abtreibungsquote bleibt Russland immer noch  Weltrekordler was die Abtreibungs-Gesamtzahl anbetrifft. Diese traurige Tatsache ist eine Folge der den Russen jahrzehntelang durch das kommunistische Sowjetregime eingetrichterten materialistischen Ideologie. 1920 hat Sowjetrussland als Vorgaengerstaat der kuenftigen Sowjetunion als erstes Land der Welt Abtreibungen legalisiert- Uebrigens wurde das, was in Russland als "bicht traditionelle sexuelle Orientierung" bezeichnet wird, von den sowjetischen Bolschewisten schon vorher legalisiert. Beides wurde jedoch spaeter als kriminelle Str4aftat verboten und erst nach 1991 wieder offiziell erlaubt. Nichtdestotrotz wird das Thema Abtreibungen im heutigen Russland lebhaft oeffentlich diskutiert und debattiert. Ein beachtlicher Teil der heutigen russischen Gesellschaft verurteilt Kinderabtreibungen.

Ein anderes haeufig angefuehrtes Argument gruendet auf Vorstellungen aus den 90er Jahren des XX.  Jahrhunderts, wonach Russlands Bevoelkerung aussterben wuerde. Und in der Tat, hat die Sterblichkeitsrate in Russland im Verlauf von 22 Jahren, zwischen 1991 und 2012, die Geburtenrate ueberboten. Diese Entwicklung, die 1999 ihren Hoehepunkt erreicht hatte, hat sich jedoch verlangsamt, wurde gestoppt und ist dann ruecklaeufig geworden. CIA-Angaben zufolge lag die Geburtenrate in Russland 2014 etwas unterhalb des entsprechenden Kennwertes der fuenf skandinavischen Laender jedoch oberhalb der Geburtenrate aller anderen Staaten Europas, ausser Liechetnstein, Luxemburg und Belgien. Wenn man die Auswanderung aus Russland sowie die Einwanderung nach Russland mit beruecksichtigt, kann man behaupten, dass etwa seit 2012 in Russland real wieder ein Bevoelkerungszuwachs zu verzeichnen ist.

Wenn aber die heutigen Russen keine heimlichen, in Nationalkleidung getarnten Bolschewisten sind, warum loben sie denn den bolschewistischen Fuehrer Stalin so sehr? Derartige Lobeshymnen auf den grossen Stalin hat selbst die kommunistische Sowjetunion seit Nikita Chruschtschows Zeiten nicht mehr gekannt. Warum beschaeftigt sich die heutige russische Gesellschaft nicht ebenso beflissen und kritisch mit ihrer Vergangenheitsbewaeltigung, wie dies zum Beispiel die deutsche Gesellschaft im Verlauf aller Nachkriegsjahrzehnte tut?

Auf diese Frage koennte man drei verschiedene Antworten geben.

Antwort Eins: Weil die Russen eben keine Deutschen, sondern halt Russen sind.

Antwort Zwei: Weil Russland (obgleich offiziell bis 1991 "Sowjetunion" genannt, wobei es im Ausland auch damals meistenfalls als "Russland" bezeichnet wurde) den Weltkrieg nicht verloren, sondern gewonnen hat, und zwar, mit keinem anderen als Stalin an der Spitze.

Antwort Drei: Weil die siebzigjaehrige kommmunistische Herrschaft ein durchaus vielfaeltiges und widerspruechliches Erbe hinterlassen hat. Zu den Ergebnissen und Folgen der bolschewistischen Revolution von 1917 gehoerten eben nicht nur der grausame Buergerkrieg, Massenterror gegen politische Widersacher und Andersdenkende, GULAG, Zwangskollektivierung, Kirchenbekaempfung, Glaeubigenverfolgung, Deportierung ganzer Voelker usw. sondern auch die Erhoehung des allgemeinen Bildungsstandes, kostenlose Medizin, Industrialisierung u.a.m. ungeachtet der immensen Opfer, die das alles kostete.

Im Laufe von siebzig Jahren hat das kommunistische Regime die russische Gesellschaft in einer Art Schwarzem Kasten gehalten. In dieser Zeit haben sich drei Generationen abgewechselt. Als Vergleich: in Ostdeutschland hielt sich das sowjettreue SED-Regime nur vierzig Jahre an der Macht. Auch keine kurze Zeit, aber trotzdem doch eine kuerzere. Darin liegt wohl ein Grund fuer die heutige Stalin-Verehrung durch viele Russen, die seine Diktatur nicht am eigenen Leibe verspuert hatten. Der zweite Grund besteht in folgendem. Sehr viele Russen sind heute davon ueberzeugt, dass Russland seinen. obgleich sehr teuer, erkauften Sieg ueber die in seiner Geschichte wohl schwerste  Invasion aus dem Westen ausgerechnet Stalin zu verdanken hat. Es gibt zwar im heutige Russland serioese Historiker, deratige Vorstellungen von Stalins Rolle abstreiten, ihre Argumente fallen aber bei der ueberwiegenden Bevoelkerungsmehrheit kaum ins Gewisht, weil die meisten Russen keine historischen Abhandlungen sondern ganz andere Buecher lesen und meistens fernsehen. Der verklaerte Halbossete-Halbgeorgier Dshugaschwili-Stalin scheint sich also immer mehr in eine der Hauptfiguren, wenn nicht DIE Hauptfigur der russischen nationalen Ideologie zu verwandeln so wie etwa der Korse Napoleone Buonaparte sich im Laufe der Zeit als "Kaiser der Franzosen Napoleon Bonaparte" in die Hauptfigur der franzoesischen nationalen Mythologie verwandelt hat (obwohl es stets Franzosen gegeben hat und immer noch gibt, die an Napoleon Bonaparte und am Bonapartismus mehr oder weniger scharfe Kritik ueben). Und dies, obwohl Napoleon, trotz all seiner Siege am Ende seiner steilen Karriere dennoch geschlagen wurde und kapitulieren musste. Wenn es also auch in Russlaqnd soweit sein sollte, dann wuerde der grosse Fuehrer Stalin wohl in den Augen seiner Verehrer jeden Zusammenhang mit Marxismus, Leninismus, Weltrevolution, Bolschewismus, Kommunismus, dialektischem und historischem Materialismus, siegreichem Sozialismus, Rotem Terror und GULAG, Zwangskollektivierung, Hungersnoeten, Diktatur des Proletariats und wissenschaftlichem Atheismus verlieren (wer im heutigen Frankreich hat noch in Erinnerung, dass Napoleon zu Beginn seiner Karriere Jakobiner und Busenfreund des revolutionaeren Kommissars Augustin Robespierre, Bruder des blutruenstigen Jakobiners und Diktators Maximilien Robespierre war?). Stalin wird sich in ihren Augen endgueltig zu einem napoleonartigen Sinnbild eines starken Russlands verklaeren, das faehig ist, jede feindliche Invasion, ob aus West, Ost, Nord oder Sued erfolgreich abzuwehren und mit eiserner Hand fuer innerpolitische Ordnung zu sorgen.

Von aussen sieht das multinationale Russland viel zerbrechlicher aus, als es in Wirklichkeit ist. Im Alltagsleben bildet die Zugehoerigkeit aller in Russland lebenden und an sich mentalitaetsmaessig sowie in vielerlei anderer Hinsicht recht unterschiedlichen Voelker zur Russischen Zivilisation ein recht festes Bindeglied zwischen ihnen. Dabei sollte das Vorhandensein eines durchaus ausgepraegten Nationalgefuehls und Nationalstolzes nicht unberuecksichtigt bleiben (der Slogan "Ich bin stolz, Russe zu sein" ist in der heutigen RF keinesfalls verpoent), was sich manchmal der Aufmerksamkieit von Auslaendern dank folgendem Umstand entzieht. Das, was, zum Beispiel auf Deutsch oder auf Englisch als "Russische Foederation" beziehungsweise als "Russian Federation" bezeichnet wird, (angesehen vielleicht von wissenschaftlichen Artikeln, die im der deutschen Zeitschrift "Osteuropa" veroeffentlicht werden) heisst auf Russisch buchstaeblich nicht "Russkaja Federazija" (Russische Foederation"), sondern eben "Rossijskaja Federazija" (wortwoertlich "Russlаendische Foederation"). Und die Staatsbuerger dieser Russlaendischen (nicht "Russischen") Foederation heissen wortwoertlich offiziell nicht "Russkije" (Russen), sondern "Rossijane" ("Russlaender").

"Russe" ist ein Ethnonym, das die Volkszugehoerigkeit bezeichnet, "Russlaender" bezeichnet aber sozusagen die Zugehoerigkeit zum Staatsvolk. Freilich besteht die Bevoelkerung der Russlaendischen Foederation zu 80 Prozent aus Russen, auf dem Riesengebiet der RF lebt jedoch eine Vielzahl von Voelkern und Voelkerschaften (allein im Kaukasus sind es ihrer mindestens 100)- Daher entspricht der russische Nationalismus-Begriff eher dem deutschen Patriotismus-Begriff, als dem deutschen Begriff des Nationalismus. In Rahmen des russischen Nationalismus spielt die ethnische Zugehoerigkeit eine zweitrangige Rolle im Vergleich zur Staatsangehoerigkeit. Deshalb werden im heutigen Russland die Begriffe "Nationalist", "Patriot", "Staatsgesinnter" ("Gosudarstwennik"), "Reichsgesinnter" ("Dershawnik") sehr haeufig als Synonyme gebraucht. Russland entwickelte sich historisch nicht als monoethnyscher Staat, sondern als ein Imperium, ein Grossreich, also als ein multinationaler, polyethnischer Staat. Dieser Vielvoelhkerstaat wurde auch von innen aus nie als Staat der Russen allein betrachtet und begriffen. Die  allzu haeufig vertretene Vorstellung, der Begriff "Rossijanin" ("Russlaender") sei angeblich eine Erfindung der "Jelzin-Demokraten", der nach dem Zerfall der UdSSR 1991 erfunden wurde, entspricht nicht den historischen Tatsachen. Er war in Wirklichkeit bereits in der Anfangsphase des Russischen Kaiserreiches, in er ersten Haelfte des XVIII. Jahrhunderts schon gang und gaebe. Der russische Nationalismus, der nicht auf monoethnischer Mentalitaet und mononationaler Identitaet sondern auf einer polyethnischen kulturellen und zivilisatorischen Gemeinsamkeit basiert, ist nicht auf Integration, sondern auf Assimilation gerichtet.

Dem universalistischen Westen, der das eigene Werte-, Demokratiue- Kultur- und Zivilisationssystem als die einzige Quelle und Krone des Fortschritts auffasst, ist die Vorstellung von einer parallelen und gleichzeitigen Koexistenz unterschiedlicher Zivilisationen voellig fremd. Auch die Behauptung, die Menschheitsgeschichte unterliege keinen Entwicklunsggesetzen, ruft dort ebenfalls, gelinde gesagt, Befremden hervor. Indessen scheint im heutigen Russland, wo, nach Ablauf der postsowjetischen Uebergangsphase eine neue Staatsdoktrin auf einer neuen weltanschaulichen Basis entsteht, ei8n absolut entgegengesetzter Stadpunkt immer mehr die Oberhand zu gewinnen.Р Russische Politiker unterstreichen aus jedem Anlass die Bedeutung einer keinesfalls monopolaren sondern multipolaren Welt, sowohl aus kultureller als auch aus zivilisatorischer Sicht. So handelte es sich zum Beispiel im Grundlagenentwurf der staatlichen Politik im Kulturbereich, der am 10. Apil 2014 in der Zeitung "Iswestija" veroeffentlicht wurde, von einer globalen Auseinandersetzung zwischen Kulturidentitaeten. Darin wurde behauptet, Globalisierung wuerde nicht nur ein Zusammenwirken von Kulturen, sondern auch eine Ausenandersetzung zwischen ihnen auf wirtschaftlichem, politischem, kulturellem Gebiet sowie auf allen anderen Gebieten bedeuten. Es wurde behauptet, Russlands Trumpf in dieser Auseinandersetzung wuerde in dessen einmaliger zivilisatorischen Identitaet auf der Basis seiner historisch-kulturellen Ueberlieferung und seines einmaligen Wertesystems bestehen. Es wurde behauptet, das russische Staatswesen wuerde dank dieser einmaligen Identitaet mehr als 1000 Jahre lang bestehen, und Russlands Auftrag wuerde heute darin bestehen, diese Identitaet unter globalen Auseinandersetzungsbedingungen zu beschuetzen.

Eine solche Aseinandersetzung scheint auch tatsaechlich im Gange zu sein, und insbesondere in Form des Informationskrieges. Russische bzw. russlaendische Massenmedien und Politiker ueben haeufig Kritik an der durch die Weststaaten aus ihrer Sicht praktizierte Politik der doppelten Standards im Zuge der immer staerkeren Beherrschung Mittel- und Osteuropas durch den Westen. Sie meinen das Streben des Westen Russland das zu verweigern, was der Westen sich selber erlaubt.

Nach der Krim-Krise 2014 wurde auch das breite westliche Publikum darauf aufmerksam. Als alle westlichen Politiker und Massenmedien begonnen haben, einstimmig und einmuetig die Lostrennung der Krim von der Ukraine und ihren Anschluss an die RF als illegitime Annexion zu verurteilen, erinnerten sich manche Leute an eine aehnliche Geschichte, die im ehemals serbischen autonomen Gebiet Kosovo 2008 passiert ist. 2008 loeste sich Kosovo von Serbien los nd wurde von den westlichen Staaten sofort vorbehaltslos anerkannt. Als Moskau die Losloesung der Krim von der Ukraine mit der Losloesung Kosovos von Serbien zu vergleichen wagte, haben westliche Politiker und Massenmedien sofort begonnen, den Unterschied zwischen diesen beiden Ereignissen auf jede Art und Weise zu unterstreichen. Auch Moskaus Hinweis, dass die Losloesung der Krim von der Ukraine ohne jegliches Blutvergiessen verlief ; im Unterschied zur Losloesung Kosovos, da Serbien 2008 durch die NATO-Luftwaffen heftig bombardiert wurde und zahlreiche Menschenopfer zu beklagen waren; scheint nichts bewirkt zu haben. Aus offizieller russischer Sicht sind das alles Ausdrucksformen der vom Westen praktizierten Politik der doppelten Standards.

In Beantwortung der Frage, ob Russland ein Feind der westlichen Demokratie und eine Gefahr f;r diese Demokratie ist, laesst sich nur folgendes feststellen. Im Unterschied zum universalistischen Westen betrachtet das heutige Russland sein Welvisionsmodell nicht als Universalmodell, haelt sich nicht ans One-World-Konzept, und nutzt sein Modell sozusagen nur fuer den inneren Gebrauch, ohne zu versuchen, sein Modell und Wertesystem anderen Laendern und Voelkern aufzuzwingen. Im Unterschied zu Sojwtrussland und zur spaeteren Sojwtunion. welche aus ihrer Symbolik und Rhetorik alles Nationale entfernten, den sogenannten "grossrussischen Chauvinismus" (nebst dem sogenannten "buergerlichen Nationalismus") zu ihrem Hauptfeind erklaerten, in ihrem Staatswappen kein nationalstaatliches Emblem sondern die betont entnationalisierte, mit dem sowjetischen Hammer-und-Sichel-Emblem ueberdeckte Erdkugel fuehren und faktisch die damaligen "roten Globalisten" waren (diese Situation begann sich erst in den Jahren des Zweiten Weltkrieges etwas zu veraendern, als klar wurde, dass die Russen kaum dazu bereit sein wuerden, fuer die universalistische Sоwjetrepublik und die proletarische Weltevolution in den jKampf zu ziehen und dafuer ihr Blut zu vergiessen). Waehrend im heutigen Russland, das die russische Nationalflagge und das alte russische Staatswappen wieder eingefuehrt hat, im Exil gestorbene nationalistische russische weisse Generaele (Denikin, Kappel), der Oberbefehlshaber der Russischen Kaiserlichen Armee Grossfuerst Nikolai Nikolajewitsch, der Ideologe des russischen Nationalismus Iwan Iljin, feierlich und unter allen militaerischen Ehrenbezeigungen umbestattet werden. Russischen Zaren und Anfuehrern des antibolschewistischen Kampfes (General Markov, General Drosdowsky, Admiral Koltschak) werden Denkmaeler gesetzt. Opfer des bolschewistischen Terrors inklusive Zarenfamilie werden heiliggesprochen. Die Gedenkstele der Dynastie Romanow vor dem Moskauer Kreml, das jahrzehntelang in eine Gedenkstele internationaler sozialistischer und kommunistischer Denker umfunktioniert war, ist in ihrer urspruenglichen Form wiederhergestellt worden. In diesem Sinn kann von dem modernen Russland als Gegner der westlichen Demokratie geschweige denn eine Gefahr fuer diese Demokratie nicht die Rede sein. 

Ich danke fuer die Aufmerksamkeit.

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    Автор(ы) статьи: Wolfgang Akunov

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